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DAS JÜNGSTE GERICHT

DER GERICHTSGEDANKE IN DER CHRISTLICHEN VERKÜNDIGUNG

von Joseph Schumacher

1. Das jenseitige Gericht und das Empfinden des modernen Menschen.

Der Freiburger Psychologe Franz Buggle warnt in seinem Buch "Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann" (Reinbek 1992) mit Nachdruck vor dem Gott der Christen. Seine Argumentation gipfelt in der Feststellung, die An-drohung ewiger Höllenstrafen im Alten und im Neuen Testament sei psychischer Terror, und an-gesichts eines Gottes, der den, der nicht an ihn glaube, mit der ewigen Höllenstrafe bedrohe, könne von einer freien Entscheidung für den Glauben keine Rede mehr sein. Der Autor erklärt des weiteren, es sei eine ungeheuerliche Zumutung, an einen Gott glauben zu sollen, der die grausame Hinrichtung eines Menschen, zu dem er in einem Vater-Kind-Verhältnis stehe, als Vor-aussetzung und Beweggrund für Erlösung und Sündenvergebung nicht nur akzeptiert, sondern ausdrücklich gewollt habe. Er meint, der Gott des Alten wie des Neuen Testamentes, ein stra-fender Gott, sei extrem inhuman und er erreiche schließlich nicht einmal das Niveau des moder-nen Völkerrechts und der Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen (134 ff).

Solche Überlegungen mißverstehen das Christentum und die christliche Eschatologie von der Wurzel her radikal. Immerhin drücken sie das aus, was viele denken, die sich dem Christentum entfremdet haben, ob sie nun formell noch dazu gehören oder ob sie auch formell ihre geistige Heimat woanders gefunden haben.

Verunsichert durch das moderne säkularisierte Denken, haben christliche Theologen nicht selten auch hier zu einer Neuinterpretation der biblischen Religion ihre Zuflucht genommen und festge-stellt, die Vorstellungen von dem sich am Kreuz für die Erlösung der Menschheit opfernden Got-tessohn, von einem richtenden Gott und von einer ewigen Verdammnis seien mythisch, sie ge-hörten nicht wesentlich zur Religion des Alten und des Neuen Testamentes und die entsprechen-den Aussagen der Bibel bedürften einer Läuterung und einer Konzentration auf ihren eigentlichen Inhalt. Aus dem Kreuzestod wird dann das tragische Sterben eines Gerechten, aus der Erlösung die Vermittlung des christlichen Ethos, aus dem Gericht die Vollendung der Erlösung und aus der ewigen Verdammnis eine Metapher, die zum Guten anspornen soll.

Faktisch ist es so, dass die Heilsbotschaft des Christentums heute vielfach so verkündet wird, daß das Gericht darin keinen Platz mehr findet.

Seit den Tagen der Apostel bekennt sich indessen die Christenheit in ihrem Credo zum richten-den Gott, näherhin zu Christus, der einst die Lebenden und die Toten richten wird. Am Ende der Geschichte steht demnach nicht nur die Wiederkunft Christi, die Auferstehung der Toten und die Vollendung des Heils, sondern auch das Gericht. Trotz seiner Gnadenbotschaft hält die Schrift daran fest, dass die Menschen am Ende gerichtet werden, und zwar nach ihren Werken. Die Frei-heit und die Verantwortung des Menschen werden auch durch die Gnade nicht aufgehoben. Auf-gabe des Gerichtes ist es da, die Gleichheit der Menschen vor Gott offenbar zu machen, die we-sentlich in der Gleichheit der Verantwortung besteht. In diesem Gericht geht es um Heil oder Unheil des Menschen in seiner nachtodlichen Existenz, um Schuld und Sühne, um Lohn und Strafe. Es geht hier um die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die im menschlichen Leben oft nicht zum Zuge kommt. Das Gute muss belohnt und das Böse muß bestraft werden. So sagt es uns die Vernunft. So sagt es uns aber auch das Gewissen. Und die Offenbarung bestätigt es. So-fern das nicht in dieser Welt geschieht, geschieht es in der jenseitigen, denn die Gerechtigkeit muß am Ende obsiegen.

In der überlieferten Lehre vom jenseitigen Gericht bekennt sich der Mensch zu den Ideen von Wahrheit und Gerechtigkeit und damit zu einer sinnvollen und geordneten Schöpfung, die durch die alltägliche Erfahrung als solche oft nicht erkennbar ist.

Der Gerichtsgedanke hat zur Voraussetzung das Faktum, daß der Mensch seinen Tod überlebt, ein wesentliches Moment aller Religionen. Angesichts der Endgültigkeit des Todes unterstreicht er den Ernst des Lebens, das so zu einer Zeit der Prüfung und der Bewährung wird.

2. Das Gericht in der Überlieferung der Völker und im Christentum.

Die Überzeugung, daß das Tun und Unterlassen des Menschen auf die Ewigkeit hin angelegt ist und daß der Mensch sich jenseits der Schwelle des Todes vor Gott verantworten muß, begegnet uns in sehr vielen Religionen, vor allem in den höheren. Immer wieder stoßen wir dabei auf die Motive der Waage, der Brücke und des Buches. Auf der Waage werden die Seelen gewogen, auf der Brücke stürzen die ab, die im Leben böse waren, im Buch sind die guten und bösen Taten verzeichnet. Damit verbindet sich oft der Gedanke, daß der Mensch in seinem Erdenleben Ver-gebung finden und die Vergehen wiedergutmachen kann, daß er, solange er lebt, die Möglichkeit hat, immer wieder neu zu beginnen.

Wohl unter dem Einfluß der Orphik und volksreligiöser Vorstellungen in Ägypten und in den al-ten orientalischen Kulturen kommt Platon ( 347 v. Chr.) zu der Erkenntnis, daß der Tod eines Menschen einen unfehlbaren Richterspruch über das zu Ende gegangene Leben nach sich zieht und ermöglicht. In drei Dialogen spricht er von dem Gericht über die Toten, von der Scheidung der Guten von den Bösen, der Gerechten von den Schuldigen, von der zeitlichen und ewigen Be-strafung der Schuldigen und von der ewigen Belohnung der Guten. Das sind geradezu genuin christliche Gedanken, in gewisser Weise auch allgemein religiöse Vorstellungen. Sie machen ver-ständlich, daß viele Kirchenväter Platon als den Advent des Christentums in der Heidenwelt be-zeichnet haben.

In diesem Zusammenhang vertritt Platon interessanterweise auch die Meinung, daß der Mensch in der Todesangst im Grunde nicht den Tod, sondern das Gericht fürchtet, worauf später noch eingegangen werden soll.

Das Gericht ist ein wichtiges Element auch des jüdischen Credos. Im Achtzehngebet wird Gott als König und Richter gepriesen, vor dem alle Völker Rechenschaft ablegen müssen. Der jüdische Neujahrstag und der Versöhnungstag sind ganz von dem Gedanken des Jüngsten Gerichtes ge-prägt. Der Gerichtsgedanke unterstreicht im Judentum den Ernst des Gottesgebotes und der Ver-antwortung des Menschen vor Gott.

Für die Juden ist Gott, wie es schon das Alte Testament darlegt, der Richter aller (Gen 18,25). Er ist unbestechlich (Dtn 10, 17). Er ist es, "der das Herz ergründet, der die Nieren prüft, um je-dem zu geben nach seinem Weg, nach der Frucht seiner Geschäfte" (Jer 1 7,1 0). In den Augen der Rabbinen wurde die Behauptung, es gebe keinen Richter und kein Gericht, als die Sünde schlechthin angesehen.

Recht sinnenhaft und detailliert wird das Endgericht im Koran beschrieben. Oft wird diese Be-schreibung im Islam buchstäblich verstanden. Der Jüngste Tag und das Gericht spielen in der is-lamischen Unterweisung seit eh und je eine große Rolle. Im Islam herrscht die Überzeugung, dass zwar alles stirbt, was den Menschen betrifft, daß es aber im Jenseits zu neuem Leben er-weckt wird und dass der Lohn das Paradies, die Strafe hingegen die Verdammnis sein wird. "De-nen, die Gutes getan haben, wird das Beste und noch mehr zuteil", heißt es im Koran (Sure 10,26). Allein, die Verdammnis wird für die Muslime nicht als endgültig verstanden (vgl. Sure 39,35 und Sure 11,108), endgültig ist sie nur für die Nicht-Muslime. Dennoch ist die Androhung eines schrecklichen Gerichtes im Islam ein wichtiger Punkt der Verkündigung. Immer wieder er-geht darin die Mahnung, sich rechtzeitig durch gute Taten für das Gericht zu sichern und durch sie gegebenenfalls das Böse, dessen man sich schuldig gemacht hat, wiedergutzumachen. Ver-breitet ist dabei das Bild von der Welt als einem Saatfeld. Während nach der Auffassung der Moslems Propheten, Märtyrer und Glaubenskämpfer sofort ins Paradies eingehen dürfen, müssen die übrigen muslimischen Toten in ihren Gräbern die verheißene Auferstehung abwarten.

Einen bedeutenden Platz nimmt der Gerichtsgedanke auch im Christentum ein. Er entfaltet sich dort auf der Grundlage des Alten Testamentes, dessen Grundaussage die ist, dass Gott der sou-veräne Herr über Welt und Mensch ist, der "Richter der ganzen Erde" (Gen 18,25; Joel 4,12), der die Bösen bestraft und die Guten belohnt (Gen 18,23). Nachdrücklich lehrt das Alte Testa-ment, dass Gott der Verfechter des Rechts und der Rächer des Unrechts ist (Gen 16,5; 31,49; 1 Sam 24,16; Jer 11,20), dass er richtend in die Geschichte seines Volkes eingreift, daß er das Recht nicht nur setzt, sondern auch durchsetzt. Als Gericht Gottes bezeichnet das Alte Testa-ment etwa die Vertreibung aus dem Paradies (Gen 3,14-19), die Sintflut (Gen 6,5 ff), die Zer-streuung nach dem Turmbau zu Babel (Gen 11,8) und den Untergang von Sodom und Gomorrha (Gen 18,16-19,28). Das Alte Testament bezeugt, dass Jahwe sein Volk immer wieder bestraft für dessen treulose Abkehr von dem Bund (Jes 1,2), den er mit ihm geschlossen hat (Ex 19,1-40,38). Konkrete Formen des göttlichen Gerichtes sind vor allem die Verwüstung des Landes und die Deportation des Volkes. Neben den die ganze Geschichte durchziehenden Strafurteilen und Strafvollzügen kennt das Alte Testament aber auch seit früher Zeit ein die Geschichte abschlie-ßendes Gericht, das Endgericht, den Tag Jahwes (Am 5,18-20). Ursprünglich wird das End-gericht nur als Strafgericht für die Bösen angesehen. In der Geschichte der Offenbarung wird es dann jedoch mehr und mehr auch zu einem Heilsgericht für die Frommen. Seit der Zeit des Propheten Amos, der ältesten der Schriftpropheten, er wirkte um 850 vor Christus, ist das End-gericht ein fester Bestandteil der israelitischen Zukunftserwartung (Am 5,18-20; vgl. Ps 1,5; Spr 2,21 f; Jes 66,15). In dieses Gericht werden, so die Überzeugung in Israel, alle Völker der Erde miteinbezogen (Mi 1,2; Ps 95,10.13; Ps 97,9). Gott wird sie im Tal Josaphat zur großen Ernte oder zur großen Weinlese zusammenfahren (Joel 4,12 ff). Dann werden die Gerechten verschont und die Bösen bestraft (Weish 4,15 f; vgl. 3,1-9). Nach Auskunft des Alten Testamentes ist das Endgericht von großen kosmischen Schrecken begleitet. Recht anschaulich wird es beschrieben im Buch Daniel (Dan 7,9-12,26) und im Buch der Weisheit (Weish 4,20-5,23).

Es ist nicht zu übersehen, dass der Gedanke des Gerichtes in der Offenbarungsgeschichte des Al-ten Testamentes immer stärker hervortritt, damit aber auch die entscheidende Bedeutung des in-dividuellen Todes. Im Buch des Predigers heißt es: "Fällt ein Baum nach Süden oder nach Nor-den, wohin er fällt, da bleibt er liegen" (Koh 11,3). Diese Stelle erinnert an das Jesus-Wort im Johannes-Evangelium: "Es kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann!" (Joh 9,4).

Der Gerichtsgedanke des Alten Testamentes entfaltet sich im Neuen Testament (Apg 17,31; Röm 2,6-13; 14,10; 1 Kor 3,13; 4,4). Nachdrücklich betont das Neue Testament, dass Gott selber den Zeitpunkt für den Eintritt des Gerichtes festgelegt hat (Mt 11,20-24; 25,31-45; Lk 12,17-21; Röm 2,12-16), dass es kosmische Dimensionen haben wird (Mk 13,24; Lk 21,25 f; 2 Petr 3,7-13) und dass das Urteil, das dann gefällt wird, unwiderruflich ist (Hebr 9,15; 2 Petr 1,1 1).

Wie die Evangelien bezeugen, verkündet Jesus das bevorstehende Gericht mit großem Ernst (Mt 7,24-27; 10,28.33; 16,24-27; 23,13-35; 24,3-14. 2936; Lk 11,31; Mk 13), benutzt er dieses Er-eignis häufig als wichtiges Motiv in seiner Lehrverkündigung (Mt 7,22 f; 11,22.24; 12,36 f.41). Es ist auffallend, dass die Parabeln, die Gleichnisse, die er verwendet, zum größten Teil Ge-richtsgleichnisse sind (Lk 16,1-8.19-31; Mt 22,1-14; 24,37-39; 25,14-30; Lk 19,11-27; Mt 13,24-30.47-50; 25,1-13; 18,23-35; 20,1-16). Er betont, daß der Tag des Gerichtes wie ein Dieb in der Nacht kommt, völlig unerwartet (Mt 24,43-51), dass er nicht vorausberechnet und datiert werden kann (Lk 17,20), woraus sich für ihn die Mahnung ergibt, wachsam (Mk 13,5.9.23.33. 35.39; Mt 24,42) und stets bereit (Mt 24,44; Lk 12,40; Mt 25,1-13) zu sein. Wachsamkeit und Bereitschaft bestehen für ihn in der inneren Umkehr (Mk 1,15). Diese verknüpft er mit dem Glauben an die Heilsbotschaft und mit der Entscheidung für seine Person. Wie er betont, hängt das Urteil im Gericht ab von der Stellung, die der Mensch in seinem irdischen Leben zu ihm und zu seiner Botschaft eingenommen hat (Mt 25,31-46; 18,23-35).

Gemäß dem Johannes-Evangelium beginnt das Gericht schon in diesem Äon, im gegenwärtigen Augenblick (Joh 5,25; 12,31). Von daher versteht sich die Feststellung Jesu: "Wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet" (Joh 3,18.36) oder: "Wer glaubt, kommt nicht ins Gericht, sondern ist schon vom Tod zum Leben hinübergegangen" (Joh 5,24). Nach Auskunft des Johannes-Evan-geliums besteht das Gericht in der Annahme oder in der Zurückweisung des Christusheils, voll-zieht es sich von daher bereits im gegenwärtigen Verhalten des Menschen zu Christus (Joh 8,24; 3,1-21.31-36; 6,22-59; 7,14-30; 8,12-20). Deshalb ist die Welt schon gerichtet, sofern sie über das Kreuz triumphiert (Joh 12,31; 16,8-11). Das heißt jedoch nicht, daß das zukünftige Gericht nicht mehr stattfindet (Joh 5,28 f; 12,48). Ihm obliegt es, die Scheidung, die sich schon jetzt in den Herzen der Menschen vollzieht durch die Entscheidung für oder gegen diesen Christus, zu ratifizieren und zu manifestieren und das gegenwärtige Gericht vor aller Welt offenbar zu ma-chen. Dabei ist zu beachten, daß die Entscheidungen des Menschen im Pilgerstand immer revi-dierbar sind - ein specificum der menschlichen Entscheidungen im Unterschied zu jenen der rei-nen Geister.

Auch die Paulusbriefe sprechen vom Gericht (Röm 2,5; 2,16; 14,10; 1 Kor 4,5; 2 Kor 3,12-15; 5,10), ebenso die Apostelgeschichte (Apg 2,20; 10,42; 17,31; 24,25) und die Briefe (1 Petr 1,17; 2 Petr 2,3-9; 3,10-14; Jak 2,13; Jud 15) sowie die Apokalypse (Offb 20,11; 6,10; 11,18). Die Apostel sehen es als eine wichtige Aufgabe an, dem Volk zu verkünden, dass Jesus, der Aufer-standene, der von Gott bestellte Richter der Lebenden und der Toten ist (Apg 10,42).

Schon in den Evangelien begegnet uns der Gedanke, dass Jesus der Richter ist und als der Men-schensohn das Gericht vollziehen wird (Mt 16,27; Joh 5,22 f. 27). Das bezeugen die Evangelien zusammen mit den übrigen Schriften des Neuen Testamentes (Apg 10,42; 17,31; Röm 2,5-16; 1 Kor 1,8; 5,5; Phil 1,6; 2 Kor 5,10; 1 Petr 4,5; 2 Tim 4,1).

Demnach ist das Gericht in zweifacher Hinsicht christologisch ausgerichtet. Zum einen geht es in ihm um die Stellung des Menschen zur Person Jesu, zum anderen ist dieser Jesus der Richter. Das heißt: Er ist nicht nur ein Gerichtsprophet, er verkündet nicht nur das Gericht (Mk 14,62), er vollzieht es auch (2 Tim 4,1; 1 Petr 4,5). Gott hat es ihm übergeben (Joh 5,22.27; Apg 10,42 f; Röm 2,16). Am Ende der Tage wird er zum Gericht erscheinen (Mt 7,22 f; 13,41-43). Dann müssen alle vor ihn hintreten (2 Kor 5,1 1). Er ist dann für sie der Richter und zugleich der Erlö-ser, ist er doch gekommen, um die Welt zu retten (Joh 3,17). Diejenigen, die sich in Worten und Werken zu ihm bekannt haben, werden im Gericht das Heil finden. Damit wird der Tag Jahwes (Jes 2,12; 13,6; Ez 3,13; Joel 2,1; Amos 5,18; Mt 10,15; 1 Joh 4,17; 1 Kor 5,5; 1 Thess 5,2; 2 Thess, 2,2; 2,4; 2 Petr 3,10) zum Tag des Kyrios Christus (1 Thess 5,2; 1 Kor 1,8; 2 Kor 1,14; Hebr 10,25).

Nachdrücklich heben auch die Kirchenväter das Gericht hervor, das am Ende der Geschichte stattfinden wird. Polykarp von Smyrna ( 156) bezeichnet denjenigen, der es leugnet, als den Erstgeborenen Satans (Pol Phil 7,1). Eingehend beschäftigt sich Augustinus ( 430) mit ihm im 20. Buch seines Gottesstaates.

3. Die Unterscheidung des allgemeinen und des besonderen Gerichtes.

Nun unterscheiden wir gemäß der Lehre der Kirche das besondere und das allgemeine Gericht. Das eine betrifft den einzelnen, das andere die Gesamtheit der Menschen. Im besonderen Gericht entscheidet sich das ewige Schicksal des einzelnen sogleich nach seinem Tod, im allgemeinen wird es noch einmal bekräftigt am Ende der Geschichte.

In der Schrift geht es primär um das allgemeine Gericht. Dieses steht auch in der Dogmenge-schichte am Anfang. Das besondere Gericht wird indessen in der Schrift nur einschlußweise er-wähnt, und es tritt erst allmählich in das explizite Glaubensbewußtsein der Christenheit. Im Alten Testament begegnet es uns in den jüngeren Schriften, andeutungsweise. Im Neuen Testament gibt es einige Stellen, die deutlicher sprechen, aber ausdrücklich erwähnen auch sie es nicht.

Im Buch Jesus Sirach heißt es: "Preise niemanden vor seinem Tode glücklich, denn den Men-schen erkennt man erst an seinem Ende" (Sir 1 1,28; vgl. 1,13). Das Buch der Psalmen bemerkt: "Du wirst meine Seele nicht im Totenreiche lassen und deinen Heiligen nicht die Verwesung schauen lassen" (Ps 15,10). Diese Stelle wird später in der Apostelgeschichte zitiert (Apg 2,27). Im Buch des Predigers lesen wir endlich: "Der Staub kehrt zur Erde zurück, von der er genom-men ist, die Seele zu Gott, der sie gab" (Koh 12,7).

Im Lukasevangelium wird das besondere Gericht nahegelegt durch die Erzählung von dem rei-chen Prasser und dem armen Lazarus (Lk 16,23; vgl. 16,13) und durch das Jesuswort: "Heute noch wirst du bei mir im Paradiese sein" (Lk 23,42), in der Apostelgeschichte durch das Urteil über Judas, der "aus dem Apostelamt ausgeschieden" und "an seinen Ort gegangen ist" (Apg 1,25). In der Apostelgeschichte gibt es noch zwei weitere einschlägige Stellen: Apg 2,27 wird, wie bereits gesagt, Psalm 15,10 zitiert und Apg 7,29 betet der sterbende Stephanus, daß Gott seinen Geist aufnehmen möge. Im Philipperbrief erhofft Paulus sogleich nach dem Sterben die se-lige Gemeinschaft mit Christus (Phil 1,23) und in den beiden Korintherbriefen erklärt er, mit dem Tod höre für den Gerechten der Zustand des Glaubens auf und beginne der Zustand des Schau-ens (2 Kor 5,7; 1 Kor 13,12). Im Hebräerbrief heißt es endlich: "Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, und danach folgt das Gericht" (Hebr 9,27).

Trotz dieser Zeugnisse sind die Vorstellungen über das Schicksal der Verstorbenen vor dem Weltgericht in der Väterzeit noch nicht einheitlich. Einige Väter sprechen von einer Wartezeit bis zum Jüngsten Tag, von einem "refrigerium interim", das als ein traumartiger Zustand zu verste-hen ist. Diese Auffassung finden wir bei etwa Justin ( um 165) in seinem Dialog mit Tryphon (c. 5: PG 6,487), bei Irenäus von Lyon ( um 202) in seiner Schrift "Adversus haereses" (l. 5, c. 31: PG 7,1208) und bei Tertullian ( nach 220) in seinem Traktat über die Seele "De anima" (c. 55: PL 2,750 ff). Auch Ambrosius ( 397) macht sie sich zu eigen (De bono mortis 1. 10, c. 47: PL 14,588). Laktanz ( nach 317) leugnet in diesem Zusammenhang das besondere Gericht dezidiert (De vita beata, c. 21: PL 6,802). Er denkt an einen Ort, an dem die Seelen bis zum Jüngsten Tag in Gewahrsam gehalten werden, "in una communione custodia detinentur". Andere Kirchenväter sprechen von einem Seelenschlaf - diese Auffassung machten sich in alter Zeit vor allem die Ne-storianer und die Armenier zu eigen, in neuerer Zeit wurde sie auch von einigen reformatorischen Theologen vertreten - oder auch von einer Seelenvernichtung (Eusebius, Historia ecclesiastica 1. VI, c. 37: PG 20,597). Von den Photinianern, später auch von den Wiedertäufern, wurde die Meinung vertreten, es sterbe der ganze Mensch mit Leib und Seele, um am Jüngsten Tag zu neu-em Leben zu erstehen. Die Manichäer lehrten, in der Tradition der Esoterik stehend, die Seelen-wanderung, die Läuterung des Menschen durch immer neue Wiedergeburten.

Von Anfang an finden wir bei den Vätern aber auch Zeugnisse für das besondere Gericht und für die sofortige Vollstreckung des Urteils sowie für die Überzeugung, daß der jenseitige Lohn so-gleich nach dem Tod, nicht erst am Jüngsten Tag, verliehen wird. Dabei denkt man zunächst an die Märtyrer, dann aber auch an die anderen Heiligen. In diesem Sinne äußern sich etwa Clemens von Rom ( 101), Polykarp von Smyrna ( 156) und Ignatius von Antiochien ( um 110). Ter-tullian ( nach 220), der, wie gesagt, auch den Wartezustand kennt, hat gleichzeitig als erster ein-gehend über das individuelle Gericht gesprochen, und zwar in seinem "Zeugnis der Seele" (Te-stimonium animae c. 4: PL 1,687) und in seinem späteren, bereits zitierten Werk über die Seele (De anima n. 58: PL 2,795).

Im Sinne des individuellen Gerichtes nach dem Tod äußert sich auch Cyprian von Karthago ( 258), wenn er erklärt:"Wir wollen den Tag umfangen, welcher den einzelnen ihre Wohnstätte zu-weist, welcher uns von hier hinwegnimmt, von Fesseln befreit und dem Paradiese und dem Kö-nigtum zurückgibt" (De mortalitate c. 26: PL 4,601).

Hilarius ( 367) (In Ps 2,49: PL 9,290), Ephraem ( 373) (Sermo in eos, qui in Christo dormi-erunt. Opera graeca, Ed. Assemani Bd. 111,266), Chrysostomus ( 407) (In Matthaei Evangeli-um 14,4: PG 57,222), Hieronymus ( 420) (In Joelem 2,1: PL 25,965) und Augustinus ( 430) (De anima et eius origine 1. 2, c.4, n. 8: PL 44,498) haben dann die Lehre vom besonderen Ge-richt entwickelt, wie sie bis heute in der Glaubensüberlieferung festgehalten wird.

Augustinus (+ 430) bemerkt in seiner Schrift "De anima et eius origine": "Es ist richtig und heil-sam zu glauben, daß die Seelen, sobald sie den Leib verlassen haben, ehe sie in jenes Gericht kommen, wo sie nach Erhalt ihres Leibes gerichtet werden, und in dem Leib, in dem sie gelebt haben, Strafe oder Herrlichkeit empfangen, schon Strafe oder Herrlichkeit empfangen" (De anima et eius origine 1. 2, c. 4, n. 8: PL 44,498). An anderer Stelle schreibt er: "Alle Seelen haben, wenn sie aus dieser Welt geschieden sind, verschiedene Heimstätten: die guten haben Freuden, die bösen Strafen. Wenn aber die Auferstehung der Leiber kommt, werden die Guten mehr Freude, die Bösen schwerere Strafen erleiden" (In Joannem 49, 10: PL 35,1 757).

Dezidiert spricht auch Gregor der Große ( 604), der einen großen Einfluß auf die Theologie des Mittelalters ausgeübt hat, von dem individuellen Gericht (Dialogus 1. 4, c. 26: PL 77, 357-364; c. 28: PL 77, 369; vgl. c. 25: PL 77, 356 f, und c. 39: PL 77, 393-396).

Seit dem Hochmittelalter findet sich wiederholt in offiziellen Verlautbarungen der Kirche die Feststellung, daß der ewige Lohn und die ewige Strafe oder die zeitlich begrenzte Läuterung un-mittelbar nach dem Tod des Menschen eintreten, ungeachtet der Tatsache, daß alle Verstorbenen noch einmal ins Endgericht kommen: nach der Professio fidei des Michael Paläologus des Kon-zils von Lyon (1274) (DS 856-859), nach der Bulle "Benedictus Deus" Benedikts XII. von 1336 (DS 1 000), nach dem Decretum pro Graecis des Konzils von Florenz (1438) (DS 1304-1306) und nach einer Äußerung des Konzils von Trient (1563) (DS 1820) treten die Seelen sogleich nach dem Tod in den Endzustand ein - um nur einige bedeutende Lehrdokumente zu nennen. Wenn in diesen Dokumenten formell auch nur von dem sofortigen Eintritt des Endzustandes nach dem Tode die Rede ist, nicht von einem besonderen Gericht, so ist darin doch die Wahrheit von einem vorausgehenden Richterspruch eingeschlossen.

Der Katechismus des Konzils von Trient, der sogenannte Catechismus Romanus, erklärt aus-drücklich, daß das besondere Gericht nicht mit dem Endgericht identisch ist (1, c. 8, q. 3). Eine entsprechende Erklärung lag auch dem 1. Vaticanum zur Beschlußfassung vor, die allerdings we-gen des vorzeitigen Abbruchs des Konzils nicht zum Zuge kam.

Neuerdings hat Papst Paul VI. im Jahre 1968 das zweifache Gericht und im Zusammenhang da-mit die substantielle Fortexistenz der menschlichen Geistseele über den Tod hinaus sowie die Auferstehung des Fleisches als Wiedervereinigung der Seele mit dem Leib im sogenannten Credo des Gottesvolkes unmißverständlich als zum Glauben der Kirche gehörig bezeichnet (Acta Apo-stolicae Sedis 60,1968, 444).

Der theoretischen Entfaltung des Glaubens an das besondere Gericht und seiner begrifflichen Fassung läuft die Glaubenspraxis voraus, wie es oft der Fall ist. Schon in frühester Zeit werden die Heiligen angerufen, wie uns Inschriften und Denkmäler in den Katakomben bezeugen. Dem-gemäß werden in späteren Jahrhunderten die Beatifikationen und Kanonisationen wichtige Ele-mente des kirchlichen Lebens. Zu erinnern ist hier auch an die Darbringung des Opfers und an das Gebet für die Verstorbenen schon in ältester Zeit.

Die fehlende Eindeutigkeit in der Väterlehre hinsichtlich des besonderen Gerichtes wirkte inde-ssen teilweise bis ins Mittelalter nach. Hier ist vor allem an den Streit um die Äußerungen des Papstes Johannes XXII. im Jahre 1331 zu erinnern (vgl. DS 990). In den Ostkirchen ist sie noch in der Gegenwart weithin bestimmend, wenngleich man zuweilen auch reflex von einem beson-deren Gericht ausgeht. So wird etwa in der griechischen Orthodoxie ein Zwischenzustand zwi-schen dem Tod und der Auferstehung angenommen, der für die Gerechten und die Sünder un-gleich ist und dem auch ein besonderes Gericht vorausgeht.

Den Wartezustand, von dem eine Reihe von Vätern spricht, kennt auch Calvin ( 1564) (Insti-tutio christinae religionis l. 11, c. 25, n. 6), wenngleich er die Auffassung vertritt, daß die See-len der Verstorbenen sogleich ihr endgültiges Schicksal, den Himmel oder die Hölle, erlangen, um dort auf die Auferstehung des Leibes zu warten (ebd.). Ausdrücklich verteidigt er die Unsterb-lichkeit der Seele mit dem Hinweis auf Lk 23,43: "Heute noch wirst du bei mir im Paradiese sein" (ebd.). Allgemein wurde in der reformatorischen Christenheit bis in die Gegenwart hinein durchweg das zweifache Gericht, das individuelle und das allgemeine, gelehrt. Erst seit gut einem halben Jahrhundert erfolgt hier eine Wende, wenn der Vätergedanke von einem schlafähnlichen Zustand wieder aufgegriffen wird.

4. Die Leugnung des zweifachen Gerichtes.

Seitdem Paul Althaus ( 1966) und Karl Barth ( 1968) mit Nachdruck die Meinung vertraten, im Tode sterbe der ganze Mensch, er lebe aber im Gedächtnis Gottes weiter bis zum Jüngsten Tag, um dann nach der Auferstehung gerichtet zu werden, und es gebe keine unsterbliche oder unzerstörbare Geistseele, diese sei unbiblisch und griechischen Ursprungs und werde nicht der Einheit des Menschen gerecht, wurde die überkommene Unterscheidung des besonderen und des allgemeinen Gerichtes im reformatorischen Christentums vielfach aufgegeben. Heute schließen sich dieser Auffassung immer mehr auch katholische Theologen an.

Mit dieser Lehre vom Ganztod des Menschen, einer Wiederauflage eines Gedankens der Photi-nianer und der Wiedertäufer, verbindet man dann allerdings vielfach die Lehre von der Aufer-stehung des Menschen im Tod, speziell im Raum der katholischen Theologie, die freilich ein No-vum in der Geschichte des Glaubens darstellt. Man sagt dann, das besondere Gericht sei nicht verbindliche Glaubenslehre, es sei lediglich ein Vorstellungsmodell, im Grunde sei es jedoch nicht haltbar, weil es von einer leibfreien Existenz der Seele ausgehe und ein zweifaches Gericht über ein und denselben Menschen behaupte. Im einen Fall werde die Einheit des Menschen auseinan-dergerissen, im anderen erfolge eine sinnlose Verdoppelung. Daher will man die beiden Gerichte als ein einziges verstehen, als zwei Aspekte eines einzigen Geschehens. Konsequenterweise wird dann die Läuterung im Fegfeuer zu einem Aspekt des Todes. Zur Rechtfertigung dieser Sicht des Menschen und seines Sterbens beruft man sich dabei vor allem auf die Zeitenthobenheit der jen-seitigen Welt und auf die Tatsache, dass in den eschatologischen Aussagen der Schrift nicht ein Fahrplan der künftigen Ereignisse vorgelegt wird. Von der Lehre vom Ganztod und von der Auf-erstehung im Tode erhofft man die Überwindung eines "dualistischen" Verständnisses des Men-schen sowie eine Aufwertung des Leibes und der irdischen Wirklichkeiten.

Die Lehre vom Ganztod und von der Auferstehung im Tode wird bereits im Holländischen Kate-chismus von 1969 vertreten, allerdings nicht ohne Widerspruch von Seiten des römischen Lehr-amtes. Zunächst hebt die römische Kongregation für die Glaubensiehre korrigierend die Ver-schiedenheit des besonderen und des allgemeinen Gerichtes hervor sowie die Dauer zwischen dem Tod des einzelnen und dem Kommen des Herrn zum letzten Gericht und charakterisiert die-se als "eine Dauer von einer höheren Ordnung als der Ordnung dieser Zeit". Zehn Jahre später weist sie in dem Schreiben zu einigen Fragen der Eschatologie vom 17. Mai 1979 die Lehre vom Ganztod und von der Auferstehung im Tode noch einmal in aller Form zurück und stellt fest: "Die Kirche hält an der Fortdauer und Subsistenz eines geistigen Elementes nach dem To-de fest, das mit Bewußtsein und Willen ausgestattet ist, so daß das >Ich des Menschen< wei-terbesteht, wobei es freilich in der Zwischenzeit seiner Körperlichkeit entbehrt. Um dieses Ele-ment zu bezeichnen, verwendet die Kirche den Ausdruck 'Seele', der durch den Gebrauch in der Heiligen Schrift und in der Tradition sich fest eingebürgert hat. Obwohl sie nicht übersieht, dass dieser Ausdruck in der Heiligen Schrift verschiedene Bedeutungen hat, ist sie doch der Auffassung, daß es keinen stichhaltigen Grund dafür gibt, ihn abzulehnen, zumal ja irgendein sprachlicher Ausdruck zur Stütze des Glaubens der Christen einfach notwendig ist". Des weite-ren bemerkt das Dokument: "Die Kirche lehnt alle Denk- und Sprechweisen ab, durch die ihre Gebete, die Beerdigungsriten und der Totenkult ihren Sinn verlören und unverständlich würden, denn all das stellt in seiner Substanz einen locus theologicus dar". Ausdrücklich weist das Schreiben das Zusammenfallen von persönlichem Tod und Parusie zurück, hebt die beiden Möglichkeiten von Heil und Unheil hervor sowie den doppelten Ausgang der Geschichte des Menschen und der Menschheit und betont, daß das Dogma von der leiblichen Aufnahme Ma-riens in den Himmel nicht "via facti" gegenstandslos werden darf.

Die Lehre vom Ganztod und von der Auferstehung im Tode findet gegenwärtig wachsende Zu-stimmung, auch bei katholischen Theologen. Das wird nicht zuletzt deutlich in der Scheu vor dem Terminus "Seele" in der zeitgenössischen katholischen Theologie. Eine Konsequenz davon dürfte auch das weitgehende Fehlen dieses Terminus in der erneuerten Sterbe- und Totenliturgie von 1970 sein.

Die offizielle Lehre der Kirche geht hier indessen andere Wege. Und die vom Glauben erleuch-tete Vernunft erkennt hier nicht wenige Ungereimtheiten.

Wenn der ganze Mensch stirbt, kann man eigentlich nicht mehr von Auferstehung sprechen. Dann kann richtigerweise nur noch von einer Neuschöpfung die Rede sein. Denn es fragt sich, wo die Identität zwischen dem alten und dem neuen Menschen liegt, was denn da aufersteht, wenn von dem Ich, das da gewesen ist, nichts mehr vorhanden ist und wenn zudem noch der Leib keine Relevanz für die Auferstehung hat. Darüber hinaus fragt sich, was, wenn alle im Tode auferstehen, das Besondere der Auferstehung Jesu ist und welche Bedeutung dann noch die leib-liche Aufnahme Mariens in den Himmel hat.

Es ist jedoch festzuhalten: Der Geist des Menschen überdauert den Tod. Das kann die natürliche Vernunft einsehen. Die philosophischen Argumente für die unsterbliche Geistseele, die uns seit Platon in immer neuen Abwandlungen begegnen, müssen zuerst einmal widerlegt werden. Was bleibt im übrigen von der Personalität des Menschen, wenn sie auf das Fundament der un-sterblichen Geistseele verzichten muss? Und was ist es dann, was den Menschen vom Tier unter-scheidet?

Die Lehre vom Ganztod wird dem Wesen des Menschen als Geistperson nicht gerecht. Zudem kennt auch die Bibel die unsterbliche Geistseele. Sie vertritt die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung der Toten. Die Definition des Todes als Trennung von Leib und Seele ist kei-neswegs als hellenistisches Gedankengut zu qualifizieren, sie ist vielmehr genuin biblisch.

Man muss sich darüber im klaren sein, daß die Lehre vom Ganztod des Menschen, in der die We-sensverschiedenheit von Materie und Geist nicht gewürdigt wird, sich in unmittelbarer Nachbar-schaft des Materialismus und des Atheismus bewegt. Sie stellt die Besonderheit des Menschen in der Schöpfung in Frage und ist neu in der Geschichte der Religionen, die allesamt irgendeine Art der Weiterexistenz des Menschen im Tod vertreten und nicht selten sogar auch einen rich-terlichen Spruch und eine doppelte Form der jenseitigen Existenz, einer glücklichen und einer un-glücklichen.

Es ist nicht zulässig, der postmortalen Existenz die Zeitlosigkeit und damit auch die Raumlosig-keit zuzusprechen, um so das besondere und das allgemeine Gericht zu einem einzigen Ereignis zu machen, speziell in der Verbindung mit der Vorstellung von der Auferstehung im Tode. Zeit- und Raumlosigkeit kommen allein Gott zu. Bei Raum und Zeit handelt es sich um Kategorien, die allem Geschaffenen zukommen, wobei diese Begriffe selbstverständlich im Hinblick auf die Transzendenz und im Hinblick auf nicht materielle Geschöpfe analog verwendet werden müssen. Wenn wir bezüglich der Transzendenz von den hier gültigen Dimensionen von Raum und Zeit abrücken müssen, so bedeutet das nicht, dass wir von diesen Dimensionen überhaupt abrücken müssen. Im Gegenteil, wir dürfen es gar nicht.

Die Tendenz, dem Menschen in seiner postmortalen Existenz Zeitlosigkeit und damit auch Raumlosigkeit zuzuschreiben, geht wohl aus einer latenten Neigung zum Pantheismus hervor, in dem das Ziel des Menschen nicht die liebende Vereinigung mit Gott ist, sondern die Identifi-kation mit ihm, in dem der Mensch durch die Vergöttlichung letztendlich seine Identität verliert.  Das ist ein Gedanke, der jener gegenwärtig dominanten geistigen Strömung sehr entgegen-kommt, die wir als das "New Age" bezeichnen. In der Esoterik hat er bereits eine lange Ge-schichte.

5. Wesentliche Momente des besonderen und des allgemeinen Gerichtes.

Grundsätzlich ist festzuhalten: Der Terminus "Gericht" ist in unserem Zusammenhang analog zu verstehen, wie stets die entscheidenden Termini der Offenbarung und der Theologie analog zu verstehen sind. Die Sache selbst ist ein Glaubensmysterium, ein "mysterium stricte dictum". Die Vorstellung einer feierlichen Gerichtssitzung ist auf jeden Fall absurd. Was gemeint ist, das ist "die personale Begegnung mit dem richtenden Gott" (A. Läpple). Das bedeutet nicht, dass die Seele nach dem Tod das Antlitz Gottes im Sinne der "visio beatifica" schaut. Das ist erst, gegebenenfalls, das Ergebnis des Gerichtes. Es ist vielmehr so: Im Tode oder unmittelbar nach seinem Ableben wird der Mensch gleichsam sein eigener Richter. Im Gericht, das die Konse-quenz seines Verhaltens im irdischen Leben ist, offenbart Gott ihm seinen religiös-sittlichen Zu-stand und das diesem Zustand entsprechende Los, die künftige Existenzweise, und läßt sie sogleich beginnen. Kraft göttlichen Willens kann er sich dann dieser seiner Einsicht und ihrer Konsequenz nicht mehr entziehen. Nicht zu Unrecht hat man hier von einem Selbstgericht ge-sprochen. "Das Gericht ist einfach die Wahrheit selber, ihr Offenkundigwerden" (Joseph Ratzin-ger). Es ist hier so, daß der Mensch sein Leben im Lichte Gottes beurteilt.

Das Selbstgericht, das hier stattfindet, ist aber zugleich ein Gottesgericht, weil Gott es ermög-licht und fordert. Es ist die Krönung aller Selbstgerichte, die der Mensch in seinem Leben voll-zogen hat. "Wenn die Seele (so) an Gottes Sein ihre Güte oder ihre Bosheit vollkommen er-kennt, dann richtet sie sich selbst und ist zugleich von Gott gerichtet" (Leo Scheffczyk).

Selbstgerichte gibt es auch im "status viatoris". Sie sind ein wesentliches Moment des christli-chen Lebens. Im Pilgerstand gibt es allerdings die Möglichkeit der Selbsttäuschung oder auch der Fremdtäuschung sowie der Zurückweisung der Konsequenz des Gerichtes, das heißt: der Annahme des Urteils. In sakramentaler Weise wird dieses Selbstgericht nach katholischem Ver-ständnis im Bußsakrament vollzogen. Während der Mensch den Selbstgerichten im Pilgerstand ausweichen kann, kann er sich dem Selbstgericht im Tode nicht mehr entziehen.

Man wird nicht sagen können, daß das Selbstgericht automatisch oder mechanisch abläuft, denn der Seele fehlt die vollkommene Erkenntnis, auch nach ihrer Trennung vom Leibe. Die notwendige Einsicht in die Straf- und Lohnwürdigkeit der Taten des irdischen Lebens ist für sie nur möglich durch eine höhere Erkenntnis, durch eine besondere Offenbarung, die Gott schenkt, die, wie gesagt, nicht mit der "visio beatifica" zu verwechseln ist.

Wichtige Momente, die hier zu berücksichtigen sind, sind das Handeln des Menschen in seinem irdischen Leben, der Endgültigkeitscharakter des Todes, der Zustand der Seele nach ihrer Trennung vom Leib, der sofortige Eintritt des Lohnes oder der Strafe und die Intervention Got-tes.

Zum einen wird Gott in der Schrift als der Richter bezeichnet (Röm 2,5 f; 3,5 f; 14,10; 1 Kor 5,13; 2 Thess 1,5; Mt 10,28 par; Mt 6,4.6.15.18 u. ö.), zum andern Christus (Joh 5,22.27-30; Mt 7,21-23; 13,41 f; 25,31-46; 1 Kor 4,4; 11,32; 2 Kor 5,10 u. ö). Das ist so zu verstehen, daß Gott den einzelnen Menschen und die Welt durch Christus richtet (Röm 2,16; vgl. Joh 5,30; Apg 17,31), zudem ist Christus der Richter in dem Sinne, daß er der Maßstab des Urteils ist, das hier gesprochen wird (vgl. Joh 5, 22).

In der Schrift werden aber auch die Zwölf (Mt 19,28; Lk 22,29) und darüber hinaus alle Gerech-ten (1 Kor 6,2) als Mitrichter und Beisassen im Gericht bezeichnet. Diese Stellung kommt ihnen zu, weil sie zum mystischen Leib Christi gehören. Ein wesentlicher Aspekt des Richtens der Zwölf und der Heiligen dürfte indessen die Fürbitte für die zu Richtenden sein, womit sie in spe-zifischer Weise am Erlöseramt Christi teilnehmen.

Die christliche Lehre vom Gericht und von der Endgültigkeit des Schicksals des Menschen im Tod ist recht anspruchsvoll, speziell im Hinblick auf die Möglichkeit der ewigen Verwerfung, des ewigen Heilsverlustes. Deswegen und in Reaktion auf das mangelnde Verständnis vieler schwächt man heute gern die Bedeutung dieses Gerichtes ab oder biegt es um in die Vollendung des Heils. Man hebt die Barmherzigkeit Gottes in einer solchen Weise hervor, daß darüber die Gerechtigkeit und die Rechtsprechung überhaupt verlorengehen. Das Gericht wird überflüssig, wenn es in allen Fällen mit dem Freispruch oder mit der Begnadigung endet. Unverkennbar ist hier die Tendenz gegeben, das Leben zu entlasten und die mit ihm verbundene Verantwortung zu eliminieren.

Der Ernst des Gerichtes wird zunichte gemacht, wenn man das Gericht so erklärt, daß der Mensch im Tode im Lichte Gottes alle Sünden bekennt und bereut, um dann die Vergebung zu empfangen (Gerhard Lohfink). Diese Auffassung findet in der Schrift keinerlei Stütze, ebenso-wenig freilich jene, nach der am Ende alle gerettet werden. Damit zu rechnen oder das zu erhof-fen, gebieten weder die Nächstenliebe noch der Glaube an die überwältigende Liebe Gottes, wie Georg Langemeyer, Medard Kehl, Herbert Vorgrimler und Gisbert Greshake meinen, um nur hier nur die Namen von einigen Theologen zu nennen. Zwar spricht man hier gern von der mög-lichen oder gar gebotenen Hoffnungauf die Rettung aller, faktisch aber geht man davon aus wie von einer Tatsache. Gewiß darf ich für jeden einzelnen die Hoffnung haben, daß er gerettet wird, weil die subjektiven Komponenten der Schuld das menschliche Urteil übersteigen. Das bedingt aber auch, daß ich um das Heil eines jeden fürchten muß, wenn auch mehr oder weniger. Zudem ist es ein Unterschied, ob ich für jeden einzelnen Hoffnung habe oder für alle insgesamt. Wenn ich für jeden einzelnen Verkehrssteilnehmer hoffen darf, daß er gesund und wohlbehalten sein Ziel erreicht, so bedeutet das nicht, daß ich vernünftigerweise hoffen darf, daß es keine Unfälle mehr geben wird. Wenn man den guten Ausgang des Gerichtes für alle vertritt, werden die bib-lischen Aussagen nicht ernstgenommen. Es kommt uns nicht zu, das Wort der Offenbarung nach den Kriterien der rationalen Plausibilität und der menschlichen Erwartung zu korrigieren.

Festzuhalten ist: Es gibt gemäß dem Glauben der Kirche die ewige Trennung von Gott, die ewige Verlorenheit (Mt 25,31-46; Mt 6,13 f; Lk 16,22; Jak 3,1; Offb passim), aber sie ist kein unent-rinnbares Schicksal. Es gibt keine Vorherbestimmung für die Hölle, so enig es eine Vorherbe-stimmung für den Himmel gibt.

Der Christ begegnet dem Gerichtsgedanken in der Haltung der Furcht und der Hoffnung. Das Gericht ist für ihn der "dies irae", aber gleichzeitig weiß er, daß der Richter der Erlöser ist. Auf der einen Seite ist es, wie es im Hebräerbrief heißt, "furchtbar, in die Hände des lebendigen Got-tes zu fallen" (Hebr 10,31), auf der anderen Seite ist Gott der Vater, der von Liebe und Barm-herzigkeit bestimmt ist und im Geheimnis der Inkarnation die Menschen erlöst hat. Dabei darf und muß die Hoffnung einen gewissen Vorsprung vor der Furcht haben (vgl. 1 Thess 5,3; Gal 5,5; Kol 3,4; 1 Kor 6,1-5; Röm 8,1.31-39; 1 Petr 1,8 f; Joh 5,24). Dass der Aspekt der Hoffnung im christlichen Leben dominiert und dominieren darf und muss, ist vor allem dadurch legitimiert, dass Christus, unser Bruder und unser Erlöser, der Richter ist, daß Gott ihm das Gericht über-tragen hat, daß unser Richter nicht ein Fremder ist oder einer, der nicht ein besonderes Interesse an uns bekundet hätte, daß unser Richter vielmehr für uns gelitten hat.

Das heißt: Hoffnung und Furcht bestimmen die christliche Existenz, müssen sie bestimmen, ohne dass einstweilen eine Synthese dieser beiden Aspekte gefunden werden kann. Faktisch wird ein-mal mehr der eine, dann wieder mehr der andere Aspekt hervortreten, in den verschiedenen Epo-chen der Geschichte wie auch im Heilsweg des einzelnen Gläubigen.

Der Gerichtsgedanke ist eine Mahnung zum Selbstgericht und zur Buße gemäß 1 Kor 11,31: "Wenn wir uns selbst richteten (auf Erden), würden wir nicht gerichtet werden (nach dem To-de)". Darüber hinaus schenkt er uns innere Freiheit und Gelassenheit in der Auseinandersetzung mit feindseligen Menschen und mit quälenden Verhältnissen und verbietet alles zwischen-menschliche Verurteilen. Zudem ist er unendlich tröstlich, bringt er doch zum Ausdruck, daß nicht das Unrecht das letzte Wort behält, auch nicht in der Weise, "daß es in einem allgemeinen Gnadenakt gleichgültig ausgelöscht" würde. Der Gerichtsgedanke sagt uns, daß es "eine letzte Appellationsinstanz" gibt, "die das Recht wahrt, um so die Liebe vollziehen zu können". Denn eine Liebe, "die das Recht zerstören würde, würde Unrecht schaffen, damit aber nur mehr eine Karikatur von Liebe sein" (Joseph Ratzinger).

Das Weltgericht bringt im Hinblick auf das Einzelgericht kein neues Urteil. Der Gegenstand ist derselbe, aber der Gesichtspunkt ist ein anderer. Seine Bedeutung besteht darin, daß es noch ein-mal alle Einzelgerichte bestätigt, und das in aller Öffentlichkeit, daß es den Menschen als Glied der menschlichen Gemeinschaft richtet, daß es, nach der Auferstehung der Toten, das Urteil über den ganzen Menschen spricht und daß es den Satan endgültig entmachtet. Das alles geschieht zur Beschämung der Sünder und zum Lobpreis Gottes, seiner Weisheit und Güte, seiner Gerechtig-keit und Barmherzigkeit. Während das besondere Gericht die Verhängung von Lohn und Stra-fe zum Ziel hat, geht das allgemeine auf die Offenbarung und Manifestation dessen, was das beson-dere Gericht zugeteilt hat. Damit dient es in höchstem Maße der Verherrlichung des Schöpfers.

Nur für wenige fällt das besondere Gericht mit dem allgemeinen zusammen, für jene, die die End-ereignisse in ihrem irdischen Leib erleben. Für die übrigen handelt es sich um zwei voneinander verschiedene Ereignisse.

Wenn schon immer gilt, dass unser Reden über die Glaubensmysterien Stückwerk ist, fragmen-tarisch, so gilt das in besonderer Weise für die eschatologischen Mysterien. Das enthebt uns je-doch nicht der Aufgabe, das zu sagen, was wir sagen können, und jene Darstellungen zu korri-gieren, die der Vernunft widersprechen und dem Wort der Offenbarung sowie dem beständigen Glauben der Christenheit nicht genügen.

Das besondere und das allgemeine Gericht sind verschiedene übernatürliche Realitäten - jeden-falls für die meisten Menschen -, die in einer gewissen Spannung zueinander stehen. Sie müssen sowohl in ihrer eigenen Bedeutung als auch in ihrer Zuordnung zueinander gesehen werden. Das besondere Gericht besiegelt das jenseitige Geschick des einzelnen. Das allgemeine fügt dem zwar nichts hinzu, aber es manifestiert die Gerechtigkeit Gottes und präsentiert Gott als den Herrn der Geschichte. Die beiden Gerichte sind voneinander getrennt durch die Dimension der Zeit, die nicht nur für unsere immanente Welt relevant ist. So sagt es uns die Schrift, und so sagt es uns die Glaubensüberlieferung der Kirche. Die Vernunft kann darin keine Ungereimt-heit erkennen. Im Gegenteil, sie nimmt darin eine tiefe Konvergenz wahr zu dem, was ihr natür-licherweise zugänglich ist.

6. Rückblick.

Im Glauben der Menschen - auch der Christen - ist Gott heute weithin nicht mehr der Richter. Vielfach wird die Terminologie noch beibehalten, wird der Inhalt jedoch verflüchtigt oder aufge-löst. Das gilt, wenn aus den zwei oder drei Möglichkeiten des Ausgangs des Gerichtes eine ein-zige Möglichkeit wird und wenn Gott alle Menschen zur "vita beata", zur Vollendung des ewi-gen Lebens führt und darauf verzichtet, die Gerechtigkeit angesichts der verschiedenen Lebens-entwürfe und angesichts der verschiedenen Taten und Leiden der Menschen wiederherzustellen. Die nachtodliche Heilsgeschichte, die Lehre vom Fegfeuer, verliert ihre Realität, wenn von der Dimension der Zeit abgesehen wird, die Verdammnis verliert ihre Realität, wenn das Gottesbild vereinseitigt und Gottes Wesen auf Liebe und Barmherzigkeit reduziert wird. Damit kommt man zwar der Erwartung vieler entgegen, nimmt dem Ethos, der Askese und dem spirituellen Bemü-hen jedoch wichtige Stützen. Das führt dazu, dass die Kategorie der Heiligkeit verblasst und sich auflöst, bestenfalls in allgemeine Mittelmäßigkeit. Wenn die Gnade Gottes in allen zum Siege kommt, entgegen allem Anschein, werden Sünde, persönliche Verantwortung und Gewissen letz-ten Endes zu leeren Begriffen. Wenn die Geschichte der Welt und der Menschheit mit der All-versöhnung endet oder wenn diese an die Stelle des Weltgerichtes tritt, verlieren aber auch das Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit und das Gebet um das ewige Heil, wichtige Elemente im Leben des Christen, im Grunde ihren Sinn.

Allein, der christliche Glaube und in gewisser Weise auch die Vernunft lehren etwas anderes. Sie lehren, dass der Mensch in seinem Leben, das er nur einmal lebt, über Heil und Unheil entschei-det, dass sein irdisches Leben von entscheidender Bedeutung ist für sein jenseitiges, dass es für ihn eine letzte Verantwortung vor Gott gibt. Daran erinnert uns das tägliche Gebet um eine gute Sterbestunde im Ave Maria, das Gebet um die Fürsprache Mariens, "jetzt und in der Stunde unseres Todes".

(Vortrag gehalten in Potsdam am 29. Oktober 2002)